Vom Nachdenken über BDSM

Unter SM-Aktiven und Passiven gibt es Menschen, die es nicht gerne sehen, wenn jemand über die „Wurzeln der Neigung“ nachdenkt, bzw. SM-Interaktionen daraufhin anschaut, was sie im Einzelnen wohl für eine psychische Funktion haben mögen. Vordergründig möchten sie „nicht alles zergrübeln“ und einfach nur genießen, was allerdings so manche aggressive Reaktion auf ein vertieftes Nachdenken nicht erklärt.

Denn: Wenn mir etwas nichts bringt, dann ignoriere ich es einfach, zum Beispiel weil es mich langweilt, bzw. keinerlei Kick bietet. Dass Andere daran Freude haben, nehme ich zur Kenntnis, trete aber doch nicht dagegen an!

Für mich scheint offenkundig: wer GEGEN das Nachdenken antritt, hat damit mehr am Hut als er vor sich selber zugibt. Vermutlich möchte er deshalb nicht genauer hinsehen (womit das nach-denken ja immer beginnt), weil er ein Problem mit dem hat, was er da zu sehen bekommt.

Scham und Schuld

Im einfachsten Fall sind es Scham- und Schuldgefühle, die nicht aufgelöst, sondern verdrängt wurden. Vor allem als junger Mensch pflegt man ein rundum positives Selbstbild: alles muss passen, voll in Ordnung sein, jegliche Kritik wirkt als Angriff – da ist es dann nicht leicht, z.B. die Sehnsucht danach, vom Partner mies behandelt zu werden, in dieses Selbstbild zu integrieren. Also ergreift man trotzig die Flucht nach vorne: Ich bin halt so und das ist gut so! Jegliches Nachdenken, warum man so ist und was man damit eigentlich erreicht, greift diese auf unsicheren Beinen stehende Sicht der Dinge an und muss also abgewehrt werden: im fremden, aber ebenso im eigenen Denken.

Die Kindheitswurzel

Dann gibt es eine zweite Sorte Menschen, die es vor allem ablehnen, eine Beziehung zwischen ihren Kindheitserlebnissen und ihrer Neigung sehen zu wollen. Bei mir ist diese „Wurzel“ klar erkennbar, doch habe ich nie behauptet, es sei bei jedem so – wie auch alle anderen, mit denen ich solche „Herleitungen“ austauschte, nicht meinen, jeder müsse z.B. als Kind geschlagen worden sein, um später an entsprechenden SM-Praktiken Gefallen zu finden. Die Verbindungen sind oft viel verborgener und komplexer – und auch hier gilt: wer da gar nichts bei sich findet, kann ganz entspannt drüber reden und muss nicht militant all diejenigen angreifen, bei denen diese Bezüge existieren.

Ich vermute, dass speziell die „Kindheitswurzel“ für alle ein Problem darstellt, deren Verhältnis zur Ursprungsfamilie im realen HEUTE noch nicht geklärt ist. „Geklärt“ heißt, dass innerer Frieden herrscht, dass nichts mehr nachhängt, dass alle Vorwürfe und Anklagen, unerfüllte Sehnsüchte und alte Verletzungen keine Rolle mehr spielen – entweder, weil das Leben all diese Wunden geheilt hat oder weil man „damit gearbeitet“ hat und darüber hinaus gewachsen ist. Das ist so lange nicht der Fall, so lange die Eltern (oder ein Elternteil) in der Erinnerung noch immer ausschließlich „die Bösen“ oder „die Guten“ sind – und auch bleiben müssen, damit das aktuelle Selbstbild stimmt.

Den Schatten umarmen

Ich konnte erst dann BDSM ausleben, nachdem sich dieser „innere Frieden“ im realen Leben lange hergestellt hatte. Und zwar dadurch, dass ich in mir selbst all die „bösen Eigenschaften“ vorfand, unter denen ich in der Ausgangsfamilie gelitten hatte. Es war kein Spaziergang, dieses Erkennen an sich heran zu lassen, sondern ergab sich im Zuge vielfältigen Scheiterns und im Rahmen verschiedener echter „Tiefs“ im Leben – was mich dann allerdings unendlich bereichert hat, denn heute bin ich „vollständig“, auch in der eigenen Selbstwahrnehmung: gut und böse, voll ok und voll daneben, voll pervers und spießig stino, extrem einsatzfähig und stinkefaul – je nachdem! :-)

In der C.G. Jungschen Psychologie nennt man diesen schmerzlichen Erkenntnisprozess die „Integration des Schattens“ – und weil mir diese Sicht der Dinge das reale Erleben sehr gut abzubilden scheint, heißt dieses Blog „in den Schattenwelten“. Denn es soll dabei helfen, angstfrei in den eigenen Orkus hinab zu steigen und mit dem Licht des Erkennens die vermeintlichen Monster oder was immer dort lauert, genau zu beleuchten und sie dadurch „neu zu formatieren“: alles halb so wild!

Schon die alten Volksmärchen haben dieses Vorgehen in verschlüsselter Form tradiert: da gibt es allerlei böse Geister und Dämonen, die vom Helden der Geschichte letztlich immer dadurch besiegt (bzw. in die Schranken verwiesen und zu Dienern gemacht werden), dass er „sie bei ihrem NAMEN nennt“! Erkannt ist gebannt, kurz gesagt – und aus meiner Erfahrung stimmt das auch so.

Romantik und die Angst vor dem Verlust

Ein weiterer Grund für die Ablehnung des Nachdenkens ist die Angst, dadurch die Lust und Freude an der Neigung zu verlieren. Viele, vor allem Einsteiger, tendieren dazu, das neu Gefundene zu idealisieren und nun aus ihrer SM-Seite eine neue Identifikation zu zimmern (man denke an die vielen kontroversen „Lebensstil versus Spiel“-Diskussionen). Das kann ich gut nachfühlen, denn es ging mir eine Zeit lang ebenso – allerdings hab‘ ich TROTZDEM weiterhin alles verschlungen, was mir im Web zum Thema begegnete. Kein „das ist doch nur…“ konnte meiner Begeisterung und tiefen Berührtheit etwas anhaben, das spielte auf einer anderen, nämlich emotionalen Ebene, die durch des Gedankens Blässe echt nicht angekränkelt werden konnte. Allerdings wusste ich auch immer in einer Art „Hintergrundwachheit“: DAS ist nicht DAS GANZE! Was ich gefunden habe, ist ein Teil meiner Selbst, den ich bisher nicht leben ließ – und deshalb fühlt es sich an wie das „letzte Ankommen“. Dass all meine anderen Persönlichkeitsanteile und Charaktereigenschaften nicht etwa in der „neuen Clu“, die jetzt vor allem „glückliche Sub“ war, aufgehen würden, war mir durchweg klar.

Dennoch lebte ich „das Romantische“ intensiv aus, schrieb aber in dieser Zeit keine langen Artikel über BDSM. Das begann erst mit dem Verblassen der ersten Begeisterung und dem Entdecken weiterer, neuer Aspekte des Auslebens: meine Praxis und mein Kopfkino veränderte sich entlang an der Erfahrung mit verschiedenen Partnern – doch bei alledem gab es niemals einen VERLUST zu betrauern! Denn wenn etwas, was früher den großen Kick bedeutete, auf einmal nicht mehr reizt oder sich gar als Selbsttäuschung heraus stellt, dann stellt sich mit dieser Veränderung auch kein Verlustgefühl ein: Wonach man nicht (mehr) verlangt, dessen Verschwinden bedauert man nicht – eigentlich logisch!

3 Kommentare

  1. Hallo Clu,

    es ist lange her, dass ich Deine Seite zuletzt besucht habe. Jedes mal war ich über die Entwicklung der Texte extrem positiv überrascht. Die Artikel der letzten Monate (vor allem der obige) zeigen ein Mass an Selbsterfahrung und Erkenntnis, das man nur bei den wenigsten Menschen wiederfinden wird.

    Auf der Suche nach dem Sinn…. ist es am Ende die Zahl 38 oder 42 ?

    Ohne dass ich im Ansatz an Erfahrung und Tiefgang jemals Dein Niveau erreichen werde, sei mir trotzdem eine bescheidene Frage erlaubt:

    Ich denke dass die Integration des Schattens für viele Menschen niemals abgeschlossen ist. Bist Du Dir sicher, dass dies bei selbst der Fall ist ?
    Kann man die alten „bösen Geister“ bei sich erkennen und in sein Leben integrieren ? Dies ist das zentrale Thema von Weltreligionen – Dichtern und Denkern seit Jahrtausenden – und trotzdem werden wir Menschen emotional nicht klüger. Jede Generation muss diesen Prozess neu erleben und fängt bei Null an.
    Verschwindet deswegen zusehends die Moral in der Gesellschaft ?

    Ist ein Mittel wie SM notwendig um die alten Schatten zu erkennen und zu überwinden ?

    Liebe Grüße und mit Hochachtung
    Jerome

  2. Niemand kann von sich wissen, ob er die Schatten allesamt erhellt und integriert hat – wogegen wir das bei anderen Menschen recht leicht erkennen.

    Ein Hinweis, wie es sich damit verhält, sind spontane Animositäten und Ressentiments: die „Fehler“ der Anderen erregen nur solange heftigen Ärger, ja Hass, solange wir unsere eigene dunkle Seite nicht kennen (wollen). Ist das der Fall, ist MITGEFÜHL das vorherrschende Gefühl.

    Deine Frage nach dem „Verschwinden der Moral“ kann ich anhand deines Postings nicht recht nachvollziehen: du sagst doch selber, dass jeder Mensch/jede Generation wieder bei Null anfängt – was könnte „Moral“ damit zu tun haben?

    Nein, ich denke nicht, dass SM „not-wendig“ ist, um den eigenen Schattenbereich zu erfahren – aber für manche ist es ein MÖGLICHER Weg.

  3. Ist Weiterdenken wichtig um im JETZT zu „bleiben“? Die dauernde lustvolle Berührtheit eine Folge von Auseinandersetzungen mit dem Selbst … in allen seinen Facetten. Hm … sehr spannend.

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