Der Kannibale von Rotenburg im Buch

Der Sexualwissenschaftler Klaus M. Meier, Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Berliner Charité, hat ein Buch über „sexuellen Kannibalismus“ geschrieben. Er hat sich dafür intensiv mit dem als „Kannibale von Rotenburg“ bekannt gewordenen Täter Armin Meiwes auseinander gesetzt, der aus seiner Sicht weder ein geistesgestörter Mörder noch ein Sadist ist, sondern ein extremer Fetischist mit einer schweren Bindungsstörung: „Mit dem Schlachten seines Opfers wollte Meiwes keinen Lustgewinn erreichen, wie es bei Sadisten der Fall wäre, sondern eine Bindung eingehen.“ sagt Meier in einem Interview mit der ZEIT.

Sein Opfer war dagegen Masochist, der „sich den Penis abtrennen lassen und Qualen erleiden“ wollte. Meier: „Dafür hat er seinen Tod in Kauf genommen und so getan, als wäre es das Größte für ihn, wenn Meiwes ihn sich einverleibt. Dem wiederum waren die quälenden Handlungen zuwider, aber er nahm sie in Kauf, um an sein Ziel zu kommen. Im Grunde genommen handelte es sich um gegenseitiges Instrumentalisieren; ein Phänomen, das wir auch in normalen Partnerschaften finden.“

Was hat das mit SM zu tun?

Warum ich das hier berichte? Weil Bernd Brandes, das Opfer des Rotenburgers, ein offensichtlich schwer gestörter Masochist war, der dem Kannibalen lediglich vorspielte, seine Schlacht-Fantasie zu teilen und umsetzen zu wollen. Weil die Tat im Konsens geschah und beide sich im Internet kennen lernten – und weil jedes Mal, wenn in einem SM-Forum Sadismus/Masochismus als Krankheit bzw. psychopathologische Störung thematisiert wird, unglaublich naive und ignorante Distanzierungsversuche folgen, so nach dem Motto: das alles hat doch GAR NICHTS mit SM zu tun. Doch spätestens, wenn dann als Abgrenzungskriterium zwischen „krankem“ und „gesundem“ SM der KONSENS bemüht wird, wird klar, dass es sehr wohl Berührungspunkte gibt, die der Diskussion wert sind. Und Masochisten wie Brandes, die davon träumen, sich den Schwanz abschneiden zu lassen, gibt es gar nicht SO selten, ich kenne immerhin persönlich Menschen, die mit diesem „Wunsch eines Spielgefährten“ konfrontiert waren. (Wer Google bemüht, findet nicht wenige krasse Bilder, Webzines und Foren zu Kastration, „Nullos“, „BME“, Eunuchen etc. – ich linke das mal lieber nicht, da wird einem nämlich leicht schlecht).

Realsadismus und psychischer Masochismus versus Sadomasochismus

Es hat sich eingebürgert, den „echten“ Sadismus (der auf Konsens pfeift und ein Opfer bevorzugt, das keinen „Spaß am Leiden“ hat), sowie den psychopathologischen Masochismus (=verbunden mit Schuldgefühlen, Selbsthass, ernst gemeintem Strafbedürfnis) vom „Sadomasochismus“ (vulgo: SM) zu trennen, was auch sehr sinnvoll ist. (Zur Diskussion und zum Wortgebrauch siehe den Datenschlag-Artikel: „Sadomasochismus – was ist das?“). Damit ist aber nicht schon alles getan: Zumindest in der Welt der „Giftschrankfantasien“, von denen nicht wenige berichten, gibt es Überschneidungen – ständige selbstkritische Reflexion ist angebracht anstatt des verbreiteten Abgrenzungsreflexes. Ebenso problematisch sind destruktive Beziehungen, in die SMler/innen geraten können, die z.B. das Buch „die Geschichte der O“ allzu ernst nehmen und dann in die Hände eines „Doms“ geraten, der sie ausbeutet und zum Opfer realer Gewalt macht, sie vollständig entrechtet und ihnen das als „ganz normale 24/7-Beziehung“ verkauft.

Das Internet als Quell des Bösen?

Gefragt, welche Rolle das Internet in der fatalen Beziehung des Rotenburgers zu seinem Opfer spielte, sagt M.Meier:
„Letztlich die entscheidende. Die beiden haben sich ja über ein Forum kennengelernt. Im Internet bildet sich einfach ein viel größerer Pool an Menschen mit abweichenden Neigungen. In der Folge entstehen dort Gruppennormen, die das Pathologische mehr und mehr als normal erscheinen lassen. Dadurch sinkt die Schwellenangst, Fantasien in die Tat umzusetzen. Das war auch bei Meiwes und Brandes so.“

Wenn in SM-Foren gelegentlich extreme Fantasien und Wünsche diskutiert werden, wird immer auch die Toleranz-Keule heftig geschwungen: „Your Kink is not my kink, but your kink is ok“. Für mich ist vieles NICHT ok, nämlich immer dann nicht, wenn jemand sich selbst oder andere mit seinem Verhalten schädigen würde. Dabei nehme ich mir heraus, mit dem gesunden Menschenverstand selbst zu beurteilen, was ein Schaden ist – und unterwerfe mich NICHT irgendwelchen „Normen der Szene“. Ob etwas nur eine Wichsfantasie ist oder ein Plan, der kurz vor der Verwirklichung steht, lässt sich oft gar nicht unterscheiden. Also lieber einmal mehr als „intolerant“ auffallen als alles unwidersprochen stehen lassen – als wäre es zum Beispiel die selbstverständlichste Sache der Welt, sich den Schwanz abschneiden lassen zu wollen!

6 Kommentare

  1. Letztlich wurde dem meines Wissens nach krankem Täter juristisch zum Verhängnis, dass er Videoaufzeichnungen der Vorgänge gemacht hatte, was ihm als sexuelles Motiv ausgelegt worden ist, nämlich die Tat jederzeit reproduzieren zu können, um seinem Geschlechtstrieb zu befriedigen.

    Damit war das Schwurgericht beim Mordmerkmal „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“ angelangt und konnte ihn zu lebenslanger Haft verurteilen, nachdem Gutachter ihm keine Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit zugebilligt haben.

    Das mag juristisch akzeptabel sein, im Ergebnis halte ich es dennoch für falsch, da der Täter trotzdem schwerst erkrankt ist, wie der Sexualwissenschaftler Klaus M. Meier festgestellt hat und im Strafvollzug keiner Behandlung zugeführt wird.

    Das Gesetz lässt allerdings keinen Raum zur Einweisung in eine geschlossene Anstalt, auch nicht bei vorliegen schwerster seelischer Störungen, wenn die Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit nicht eingeschränkt ist.

    Im übrigen, liebe Clu, bin ich ebenso überzeugt, dass die Grenzen zwischen „Kink“ und „Pathologischem“ fließend sind.

    Ich sehe eine weitaus größere Gefahr aber in vielen destruktiven Beziehen, deren Gefahr nicht in sadomasochistischen Praktiken an sich zu suchen ist, sondern in der Unterordnung in einem „natürlichen Machtgefälle“ bis hin zur Selbstaufgabe.

    Meiner Erfahrung nach liegt der „Kink“ gar nicht mal so im körperlichen Bereich, sondern im seelischen, nämlich der Machtausübung.

  2. Hi Montag,

    danke für deinen schönen Kommentar! Dass der Mann keine Behandlung bekommt, finde ich auch total falsch.
    Was den Kink rund um „Macht“ angeht: ja, da kommen manche auf Abwege, aus meiner Sicht vor allem deshalb, weil sie es GEISTIG irgendwie nicht hinbekommen, bzw. nicht hinbekommen WOLLEN, die Ebenen des Kopfkinos/Kinks in der wirklichen Welt zu relativieren. Wenns dann nicht mehr stimmt, wechseln viele einfach den Dom (was für mich die gesündere, wenn auch nicht glückliche Variante darstellt) oder – bedingt durch von BDSM eher unabhängiger psychischer Schwäche/mangelndem Selbstbewusstsein – die Beziehung wird destruktiv.

    Die Art, wie viele, die es eigentlich besser wissen, in Foren aus ihrem Kopfkino (!) heraus Reden schwingen, trägt dabei zur Verwirrung und zum Mangel an Orientierung bei. Deshalb auch dieses Blog.

  3. Das dem Täter eine massive psychische Störung und die Steuer- und Handlungsfähigkeit attestiert wird finde ich bemerkenswert ehrlich. Nur weil einer massive psychische Probleme hat, ist er nicht automatisch nicht verantwortlich für das was er tut, solange er bei Tatausführung steuerungsfähig gewesen ist.

    Daher halte ich eine strafrechtliche Verurteilung soweit für gerechtfertigt.

    Warum ihm jedoch eine therapeutische Hilfe nicht zugebilligt wird erschließt sich mir nicht, zu dem er selber von der Notwendigkeit einer Therapie überzeugt ist. Es wird demnächst eine höchstrichterliche Entscheidung zu diesem Fall geben.

    Die fließenden Übergänge und mögliche Gefahren finde ich gut und sachlich in diesem Blogartikel dargestellt.

    „Ob etwas nur eine Wichsfantasie ist oder ein Plan, der kurz vor der Verwirklichung steht, lässt sich oft gar nicht unterscheiden. Also lieber einmal mehr als “intolerant” auffallen als alles unwidersprochen stehen lassen“ Diese zwei Sätze nehm ich mir mit!

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