Morgenstunde

So leise wie möglich stecke ich den Schlüssel ins Schloss und drehe ihn einmal um sich selbst. Die Tür öffnet sich mit einem „klack“, hastig trete ich ein und schließe sie hinter mir. Im dunklen Flur ist es vollkommen still. Reglos lausche ich in die Dämmerung: höre ich ihn vielleicht atmen? Ich spüre, wie aufgeregt ich bin: noch immer hält mich der Groll der letzten fünf Stunden fest im Griff. Der 15-minütige Fußweg von meiner zu seiner Wohnung durch die kühle Morgenfrische hat nicht gereicht, mich zu beruhigen. Oh, und ich will mich auch gar nicht beruhigen! Verdammt, er soll es mitkriegen, wie ich mich fühle: stinksauer, erschöpft von der durchwachten Nacht, todmüde – und ganz gewiss nicht geil!

Ich stelle meine Tasche vor mir auf den Boden, streife die Sandalen ab, entledige mich meiner Jeans, lasse sie achtlos fallen. Weiter ziehe ich mich nicht aus, ich denk‘ gar nicht dran! Der schwarze Slip bleibt an, auch das T-Shirt, unter dem ich nichts Stützendes trage. Das Lederhalsband, das ich erst im Treppenhaus anlegte, fühlt sich kühl und schwer an. Auf nackten Sohlen schleiche ich vorsichtig vorwärts, trete durch die offene Schlafzimmertür: Da liegt er bäuchlings auf dem Bett und schnarcht. Die Decke ist verrutscht und gestattet freien Blick auf seinen knackigen Arsch, aber das kann mich jetzt nicht berühren. Wie ich ihn HASSE!

„Glaub ja nicht, dass ich dich pennen lasse!“, hatte ich ihm geschrieben, als ich gegen Mitternacht seine Mail las, die mich für 6 Uhr früh an sein Bett bestellte: „Knie dich vors Bett und warte, bis ich erwache. Du darfst an deinen Nippeln spielen, denn oben rum bist du nackt.“ Was für eine gemeine Zumutung! In der Nacht zuvor war ich erst gegen halb vier eingeschlafen – unmöglich, jetzt auf Knopfdruck den Rhythmus zu ändern, früh zu Bett zu gehen, um dann gut ausgeschlafen und fit for fun „seiner Lust zu dienen“. Oh Mann, wie konnte er nur! Was hatte er davon, wenn ich die 24 Stunden, die ich „ihm gehören“ sollte, schlagkaputt und übermüdet zubringen würde? Ich kochte vor Wut. Vermutlich hatte er gar nicht daran gedacht, was diese Anweisung für mich bedeutete, sondern nur die geile Szene im Kopf gehabt, die er sich für den Morgen erträumte. Versöhnen konnte mich diese Überlegung allerdings nicht: Was für ein Ignorant! Oder war es doch Absicht?

Ich hatte kein Auge zugetan in dieser Nacht. Immer wieder überwältigt von Wutgefühlen konnte ich nicht entspannen. Und wenn der Schlaf sich dann doch mal nahen wollte, schaute ich auf die Uhr: Nur noch zwei Stunden! Das Aufstehen würde schier unerträglich werden, wenn ich jetzt wider Erwarten noch einschlafen sollte. Und wie um Himmels Willen würde es sein, wenn er dann mehr verlangte? Würde er mich einfach ficken und sich um meine katastrophale Stimmung nicht die Bohne scheren? Würde ich das ertragen, einfach gehorchen, meine Wut in mich hinein fressend? Kaum vorstellbar, so etwas kam in meinen Fantasien zwar gelegentlich vor, doch wusste ich um den brisanten Unterschied zwischen Kopfkino und Realität: nicht alles, was in feuchten Träumen erregen kann, fühlt sich auch in der Wirklichkeit geil an.

Würde ich also ausrasten, ihm meine Wut zeigen, es trotzig und renitent auf einen Machtkampf ankommen lassen? Oder das Spiel abbrechen, unfähig, mit der Situation weiter umzugehen? Warum dann überhaupt hingehen? Warum nicht einfach eine SMS schreiben, dass er sich den Morgenbesuch abschminken kann? Nun, das hätte ich mir früher überlegen müssen, jetzt war es schon zu spät, der Nachtschlaf verpasst, die Stimmung im Keller – ich fühlte mich ratlos. Egal, wie ich mich verhielt, einer von uns beiden würde leiden. Spielte ich unter Aufbietung all meiner schauspielerischen Kräfte die Gehorsame, würde es mir schlecht gehen, ich würde innerlich zerspringen vor Ärger und Groll. Wenn ich aber absagte, wäre ER zu Recht sauer, dass er mit seiner „dominanten Idee“ gescheitert war. Und ich wollte ihn doch dominant – gelegentlich.

Jetzt höre ich seinen ruhigen Atem. Kein Schnarchen mehr. Bin mir nicht sicher, ob er wirklich schläft oder sich nur schlafend stellt. Es ist mir auch ganz egal! Auf einmal fühle ich mich unendlich leer, schaffe es nicht mehr, mir das, was jetzt geschehen könnte oder sollte, auszumalen, mir mögliche Verhaltensweisen vorzustellen, irgend etwas zu entscheiden. Gleichzeitig aufgedreht und todmüde verwirren sich meine Gedanken, die Angst, etwas ganz falsch zu machen, strengt mich nur noch an. Es ist genug! Die Situation überfordert mich physisch und psychisch, ich denke nichts, will nichts, weiss nicht, wie weiter. Ich gebe auf.

Vor dem Bett setze ich mich auf die Fersen und lege den Oberkörper auf die Matratze, nicht weit von seinem nackten Fuß. Ich wühle mein Gesichts ins Laken und denke ans Weinen – aber es kommt keine Träne, nicht einmal das. Eine seltsame Ruhe ergreift von mir Besitz. Was kommen soll, ist nicht mehr meine Angelegenheit. Fast fühlt sich das gut an – aber nur fast.

Clu Maria – 9/2005

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.