Dominanz und Unterwerfung als kreative Utopie

Dies ist ein Gast-Beitrag von Jördsón, einem Leser der „Schattenwelten“, dessen substanzielle Kommentare mich auf die Idee gebracht haben, ihn um eine Art Interview zu seinem Verständnis von »Dominanz und Unterwerfung« zu bitten. Heraus gekommen ist ein spannendes Selbstzeugnis über eine sehr individuelle Art, DS zu leben.

1. Wie alles begann

Clu: Wie hast du eigentlich deine „besondere Erotik“ entdeckt? Was war „anders“ in deinem Erleben, was hat dich auf die Idee gebracht, du könntest „anders“ sein? Und: Hast du es immer lustvoll oder auch mal leidvoll erlebt, „so zu sein“?

Jördsón: Meine bewusste BDSM-Neigung entwickelte sich recht früh: mit dem Einsetzen der Pubertät (so im Alter von 12 bis 14). Im Nachhinein stellte ich allerdings fest, dass es vor dieser Zeit bereits Ansätze gegeben hatte, die von mir aber gar nicht entsprechend wahrgenommen worden waren.

Sexuelles Empfinden jedoch habe ich von Anfang an mit Phantasien körperlicher Qual wie z.B. Drill bis zur Erschöpfung verbunden. In den ersten Jahren durchaus mit switchenden Gefühlen, nicht zuletzt, da ich mir meiner Empfindungen sehr unsicher war und sie „wegmachen“, bzw. mich selbst dafür bestrafen wollte. Zu sagen, es wäre „immer nur lustvoll“ gewesen, hieße also, die Tatsachen ziemlich auf den Kopf zu stellen. Zunächst war es für mich – und zwar über mehrere Jahre – eine ausschließlich unangenehme Erfahrung. Ich fühlte mich anders, seltsam, schuldig, hilflos gegenüber meinem Bedürfnis. Dies sollte sich erst mit Anfang 20 legen.

Außerdem fielen bei mir drei Aspekte nahezu zeitgleich ineinander: der Beginn der Pubertät, der Beginn BDSM-typischer Gedanken und Handlungen, sowie ein verstärkter Impuls kreativ-literarisch tätig zu sein. So ist für mich BDSM bis heute auch von einem künstlerischen Lebensentwurf nicht zu trennen. Die Sprache, die ich für mich benutze, ist weniger szenetypisch (Begrifflichkeiten wie 24/7, TPE, Dom oder Sub habe ich mir erst später – ein bisschen wie eine Fremdsprache – angeeignet), sondern nach wie vor poetisch angehaucht. (Ich spreche z.B. bis heute am liebsten von einer „Muse“.) Dementsprechend verbinde ich seit dem Überwinden der frühen Unsicherheiten und Schuldgefühle auch die wärmsten und harmonischsten Gedanken wie Gefühle mit BDSM.

Und noch etwas finde ich bemerkenswert: mit dem Überwinden der Schuldgefühle verschwand zugleich meine bis dahin vorhandene masochistische Ader vollständig. (Als „devot“ hätte ich mich auch zuvor nicht ansatzweise bezeichnet).

2. Was bedeutet die Neigung?

Clu: Wie interpretierst du deine Neigung? Siehst du Auslöser in der Kindheit? Glaubst du, sie wurzelt in einer angeborenen Veranlagung? Oder in „Alltagskompensation“, „Kontrollsucht“ oder ähnlichen Herleitungen?

Jördsón: Die Frage nach der Grundlage der eigenen Neigung (was ist überhaupt eine „Neigung“?) ist ja eine der eher kontroverseren Fragen im BDSM. Da heißt es einerseits, BDSM sei etwas völlig Normales, keineswegs etwas Deviantes, gar Krankes. Andererseits wird gern ein Kodex hochgehalten, was denn dieser normale, gesunde BDSM sei. Und dann gehen D/sler und SMler aufeinander los (oder auch nur die Anhänger einer etwas milderen bzw. der eher härteren Gangart) und werfen sich gegenseitig vor, eben doch deviant und krank und – mit einem Wort – „pervers“ zu sein.

Ich eigne mich schon aus dem einfachen Grund nicht für eine solche Kontroverse, da ich BDSM zwar nicht als eine Krankheit, wohl aber als Ausdruck einer gewissen Störung sowie als gleichzeitige Form der (Selbst-)Therapie ansehe. Gewiss schließe ich hierbei zu einem gewissen Teil von mir auf andere, aber an die These, dass ein emotional stabiler, gesunder, in jeder Hinsicht in sich ruhender Mensch dominante, devote, sadistische oder masochistische Bedürfnisse entwickelt, glaube ich einfach nicht. Es widerspricht meiner Logik, meiner Erfahrung und meiner Intuition.

Das heißt aber nun keineswegs, dass ich BDSMler per se (oder mich selbst) für krank hielte! Den Aspekt einer zumindest rudimentären Störung kann ich jedoch nicht so einfach wegdefinieren. Ich sehe es ähnlich einer Erkältung oder einer Allergie: wenn der Juckreiz sehr stark wird, dann niest man. Setze ich nun das Niesen dem Ausleben von BDSM gleich, so vermute ich wohl, dass es einen störenden Auslöser für diese Handlung gibt, doch die Handlung selbst sehe ich unter den gegebenen Umständen überwiegend positiv.

So erkenne ich bei mir selbst zwei Grundlagen der BDSM-Tendenz und Ausrichtung:
Zum Einen genau einen solch „niesenden“ Ansatz, der sich bei mir in der frühen Erfahrung der doch nach wie vor recht autoritären Struktur unserer vorgeblich so liberalen Gesellschaft zeigte. Aus der Rebellion gegen diese Strukturen und vor allem aus einem „narrativen Nacherleben“ (so möchte ich es mal nennen) entstand dann mein erster BDSM-Impuls.

Anfürsich bin ich kein großer Anhänger der Psychoanalyse, doch in diesem Punkt bin ich stark von Alice Miller beeinflusst und ihrem Satz, dass man das, was man nicht erzählen dürfe, durch seine Art zu leben ausdrücken müsse. So sehe ich meine BDSM-Neigung primär als eine solche „Erzählung“ erfahrener, aber von außen als „normal“ dargestellter struktureller, gesellschaftlicher Gewalt.

Zum Zweiten sehe ich jedoch ebenso klar einen höchst kreativen Aspekt. Als Dichter und Literat (der ich nun mal auch bin) ist es mir stets eine Freude, Gestalten, Geschichten, Zusammenhänge, ganze Welten und ihre Strukturen zu erschaffen (oder sie manchmal auch bloß in einem träumerischen Moment in einer einzigen holistischen Wahrnehmung vor dem inneren Auge entstehen zu lassen). Dieser Ansatz hat etwas sehr Dominantes. Bis heute ist demgemäß auch mein BDSM-Ansatz ein eher poetischer: ich will Schönheit und Harmonie erschaffen, oder – etwas bescheidener – befördern und freilegen.

Wenn auch dieser zweite Aspekt deutlich über das reine „narrative Nacherleben“ im obigen Sinne hinausgeht und kreative, gestalterische Aspekte in den Vordergrund stellt, so bin ich mir dennoch ziemlich sicher, dass der gestalterische Impuls sich nicht in diese dominante Form entwickelt hätte, hätte nicht jener Umstand einer mich als Kind überwältigenden Herrschaftsautorität der Gesellschaft am Anfang gestanden.

Allerdings (und das halte ich für sehr wichtig!) glaube ich, dass sich die BDSM-Struktur, einmal vorhanden, auch dann nicht zwangsläufig auflöst, wenn ihre auslösenden Faktoren überwunden sind. Es ist also beileibe nichts, was „geheilt“ werden müsste, ja nur „geheilt“ werden könnte. In der Verbindung mit Kreativitität hat sich mein BDSM mittlerweile zu einer recht eigenständigen Ausdrucksform entwickelt, unabhängig von den ursprünglichen Auslösern.
Um also die Eingangsfrage nochmals kurz zu beantworten: ich sehe meine Neigung in diesem Sinne als gesellschafts- (und also in gewisser Weise kindheits-) und kreativitätsbedingt an.

3. Dominanz und Emanzipation

Clu: Hattest du als Mann AUCH ein Problem mit deiner Neigung in Bezug auf den Emanzipationsgedanken (der Frau)? Wenn ja, wie hast du das Dilemma gelöst?

Jördsón: Nein, eigentlich hatte ich dieses Problem nicht! Ich war schon immer etwas frühreif und hatte mich mit Politik bereits vor der Pubertät (also vor meiner BDSM-Zeit) beschäftigt. Da ich aus einem, gesellschaftlich gesehen, gedanklich eher progressiven Elternhaus stamme und deutlich ältere Schwestern habe, war ich schon früh mit den politischen Themen der späten 70er und frühen 80er vertraut: Umweltbewegung, Emanzipation, Feminismus, Frauenquote – das war schon alles angelegt und (zumeist zustimmend) in mir verarbeitet, bevor die BDSM-Neigung sich „breit machte“.

Für mich als primär D/sler ist das ausschlaggebende Kriterium, dass jemand freiwillig seine Freiheit aufgibt bzw. zurückstellt. Um dies jedoch tun zu können, muss diese Freiheit
zunächst in vollem Umfang von dem betreffenden Menschen verwirklicht und so gesichert sein, dass der Kampfmodus um ihren Erhalt abgeschaltet werden (idealerweise in Vergessenheit geraten) kann.

Mein BDSM legte also von Beginn an eine schon vollbrachte Emanzipation zu Grunde. Es gab dann eher hin und wieder das Problem, dass ich an Partnerinnen geriet, die in ihrer Emanzipation noch nicht so gefestigt waren, wie ich es stillschweigend voraussetze. Mit diesen war es dann nicht selten, dass ein „falscher Kampf“ um Emanzipation einsetzte, da meine Dominanz (sobald sie eine gewisse Stärke erreichte / überschritt) fälschlich als anti-emanzipatorisch angesehen wurde und nicht, wie naiv von mir impliziert: als Bestätigung und Vertiefung dieser Emanzipation. Dies habe ich zumeist als Generationsproblem erfahren, grobe Struktur: sozialisiert vor 1968 oder danach. Und einen wirklich funktionierenden Lösungsansatz habe ich bislang hierfür leider nicht gefunden.

4. Vom Sinn der Sache

Clu: Welchen Sinn hat BDSM für DICH neben der Tatsache, dass du es einfach so genießt?

Jördsón: Nun, wie ich bereits beschrieben habe, sehe ich in meiner Form des BDSM einen biographisch-narrativen, einen gewissen (selbst-)therapeutischen sowie einen kreativen Ansatz. Selbstverständlich ist der reine Umstand, eine Stimmung des Wohlbefindens und der Harmonie zu erzeugen, für sich genommen bereits ein sinnstiftendes Element. Im Sinne sowohl einer Harmonie mit mir selbst (bzw. meiner Partnerin mit sich selbst) als auch der – im Idealfall – harmonischen Passgenauigkeit meiner Dominanz mit der Devotion meines Gegenübers.

Grundsätzlich bin ich jedoch kein Hedonist, und ich betreibe BDSM nicht „um Spaß zu haben“. Der Begriff des Genusses trifft seine Grundlage da schon wesentlich besser.
Mein eigentliches Anliegen ist hingegen ein kreatives. Ich möchte meine „Muse“ formen, sie prägen, ihre Entwicklung beeinflussen und forcieren. Für mich liegt im BDSM (insbesondere im D/s-Bereich) ein utopisch-visionäres Element. Dieses Utopisch-Visionäre interessiert und fasziniert mich wesentlich mehr als die „typischen“ BDSM-Rituale und -Spiele.

Clu: Hat sich dein Erleben, dein Verständnis, dein Verlangen in Bezug auf DS im Lauf der Zeit auch verändert – wenn ja, wie?

Jördsón: Nun, genau dieses utopisch-visionäre Element ist in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Es war mir zwar von Anfang an bewusst, doch liegt in diesem Bereich manchmal noch eine Art Selbsthemmung vor. Nicht, da ich etwas an ihm fürchte, wohl aber spüre ich seine Kraft, rasch weiterzuwachsen, je mehr Raum ich ihm gebe. Und ich möchte die Steuerungskontrolle darüber im Moment nicht verlieren.

5. Eine Muse formen – die Utopie

Clu: Kannst du das noch ein wenig konkreter machen? Was meinst du mit „eine Muse formen“?

Jördsón: Ich bin von drei gedanklichen Aspekten stark beeinflusst:

  • dem altrömischen Servitium, in dem der Sklave nichts weiter als eine Sache im Besitz seines Herrn war,
  • vom wesentlich späteren europäischen Hochadel und dem Verhältnis des Monarchen zu seinen (gleichfalls adligen) Höflingen und
  • vom Verhältnis in einer spirituellen Beziehung (in etwa: Mönch zu Prior oder Schüler zu Guru; in der Extremform: Devotee zu Gott).

Diese drei Aspekte suche ich letztlich zu verbinden und heraus kommt die Formulierung von etwas Viertem: der „Muse“. Dies im Detail auszuführen, wäre nun zu kompliziert, aber es ist klar, dass bereits dem Umsetzungsversuch solcher Grundgedanken etwas Utopisches innewohnt. Nehme ich nun noch meinen Impuls, gesellschaftlich etwas zu verändern, zumindest Anstöße zu liefern (nicht umsonst war ich früher ja mal in einer Gruppe tätig, die sich NAO [Neue Gesellschaft Aufbauorganisation] nannte), so werden vielleicht erste Ansätze und Konturen erkennbar.

Verbunden mit meinem oben zur Politik bereits Gesagten heißt dies nun natürlich nicht, dass ich von einer BDSM-Gesellschaft oder ähnlichem träume, gewiss nicht! Wohl aber schwebt mir vor, mein gelebtes BDSM nicht nur neben einem „normalen“ gesellschaftlichen Leben (z.B. als Ventil, als „Freizeitvergnügen“) zu leben, sondern es in möglichst konstruktiver Art auch zur Gesellschaftsveränderung einzusetzen. Warum sollte ich zum Beispiel einer „Muse“ nur private, häufig lustbetonte Handlungen abfordern? Warum nicht die vorhandene Machtstruktur auch über die Beziehung hinaus gesellschaftlich einbringen? Das könnte sich ja auf viele Weisen äußern: durch befohlenes oder von dominanter Seite aus gesteuertes gesellschaftliches Engagement, durch Nutzung der devoten Potenziale für eigene, den privaten Beziehungsrahmen übersteigende Projekte. Ich weiß, das sprengt den üblichen BDSM-Rahmen, aber für mich beginnt hier ein ganz neues und fast noch spannenderes Feld. Was lässt sich aus einer Dom/dev-Struktur machen, wenn sie beidseitig wirklich tiefgehend internalisiert ist? Dann macht es ja keinen Sinn, die „ewig gleichen“ Spiele und Rituale zu wiederholen. Und da zieht es mich persönlich zur Verbindung mit kreativen und utopischen Ansätzen.

Clu: Was ist dann für dich das besonders Befriedigende im Ausleben der Neigung? Und: Gibt’s auch etwas Beängstigendes?

Auf der etwas einfacheren Ebene betrachtet, ist es für mich besonders befriedigend gestaltend tätig zu sein – von einer einfachen Tagesplanung oder Befehlsgebung bis hin zu den genannten utoptisch-visionären Höhenflügen. Diese Befriedigung kann ich strukturell aus keiner anderen (es sei denn der poetischen) Tätigkeit gewinnen, da alle anderen ähnlichen Positionen immer in übergreifende Zwänge eingebunden sind (z.B. in die des Kapitalismus), so dass ich mich selbst in exponierter Stellung stets nur als Rädchen im Getriebe, also letztlich als „Sub“ empfinden könnte.
Auch der sadistische Aspekt spielt hier eine Rolle: die Bereitschaft eines Menschen, für mich, für mein Wohlbefinden zu leiden. Dies verbindet, wie ich finde, auf einer sehr tiefen und sehr befriedigenden Ebene miteinander.

Ob es für mich auch etwas Beängstigendes am BDSM gibt? Für mich und meine Herangehensweise nicht mehr. Mittlerweile assoziiere ich diesen und speziell D/s mit Poesie, Kreativität, Heilung, Spiritualität und Visionskraft. Darin liegt für mich in einer gewissen Weise Verlockung und Verheißung, aber doch in einer rational so fassbaren Art, dass davon keine „romantische Sehnsucht“ (von welcher ich überhaupt kein Freund bin!) auszugehen weiß. Wohl ist mir klar, dass ohne die notwendige Reflexionskraft und -tat mancherlei Gefahren lauern, aber gerade auf dem Gebiet der Reflexion und der Selbstbeobachtung fühle ich mich eigentlich recht firm.

Das eigentlich Bedrohliche liegt für mich eher in normierten, vorgefertigten Erwartungen, in einem Mangel an Reflexion und im sprichwörtlichen „normalen Trott“.

6. Vom BDSM-Paradox

Clu: Wie gehst du mit dem Paradox um? Dom hat ja nicht WIRKLICH die Macht, solange Sub nicht psychisch abhängig ist, bzw. nicht mehr Macht als ein Vanilla-Mann, der bei einer verliebten Frau ein gewissens emotionales Erpressungspotenzial hat.

Jördsón: Bevor ich jetzt zu einer meiner gefürchteten etymologischen Grundsatzdiskussionen aushole, mache ich es mal kurz: so sehe ich das gar nicht! Ich unterscheide zwischen Macht und Herrschaft. Herrschaft hieße, Zwang in beliebiger Weise ausüben zu können, hieße also, reale Gewalt auszuüben. Danach habe ich nun wahrlich überhaupt kein Bedürfnis! Der Herrschaft kann ich weder poetische Aspekte abgewinnen, noch sie positiv mit Emanzipation verbinden, geschweige sie mit der von mir so geschätzten Harmonie in Einklang setzen. Bleibt also die Macht!

Macht unterscheidet sich von Herrschaft für mich u.a. dadurch, dass sie ohne Zwangsmittel auskommt und auf Übereinkunft der Beteiligten beruht. Einzig in diesem Sinne übe ich innerhalb einer dominant-devoten Beziehung Macht aus. Etwa indem ich (sei es durch sanftes, sei es durch ausgeprägt „dommiges“ Verhalten) eine Atmosphäre (mit)kreiere, die von den Beteiligten als angenehm, als erhaltenswert eingestuft wird. Außerdem kommt mir selbstverständlich die Macht zu, eine Beziehung, wann immer es mir richtig erscheint, zu beenden.

Die Macht, die mir nicht zukommt, ist die Macht, den Erhalt einer Beziehung zu erzwingen – dies würde Herrschaft implizieren, da es keine gemeinsam gefasste Grundlage mehr gäbe. Und Herrschaft ist nun mal nichts, womit ich mich wohlfühlen könnte.

Es bleibt also (wie bei jedem Verzicht auf Herrschaft) eine gewisse Unsicherheitskomponente, ein Vertrauensbedürfnis. In diesem Zusammenhang bin ich durchaus ein Anhänger von Vertrags- bzw. Ehrkonzepten. Es wird ja häufig und intensiv vom Vertrauen gesprochen, dass eine Devote zu ihrem Dom haben muss – das ist unbenommen wahr! Ein ebenso wichtiges Vertrauen ist jedoch in meiner Sicht das des Doms zu seiner Ergebenen. BDSM heißt in meinem Verständnis erhöhte Verantwortlichkeit, erhöhte Achtsamkeit für beide Seiten. Einseitigkeiten in einem dieser Bereiche funktionieren meiner Erfahrung nach nicht.

7. Freundschaft und Achtsamkeit

Clu: Und das klappt dann einfach so? Oder braucht es psychische Ressourcen, die mit der DS-Beziehung allein nicht beschrieben sind?

Jördsón: Ein wichtiges und hilfreiches Steuerungselement ist für mich die Freundschaft (am besten in der Version der Herzensfreundschaft), die ich parallel zu allem BDSM und in jeder Beziehung als die eigentliche Grundlage ansehe. Ohne Freundschaft geht gar nichts! Diese Lektion habe ich durch einige konkrete Erfahrungen sehr praktisch verinnerlichen müssen. Und innerhalb dieser Freundschaft ist für mich sowohl Vertrauen, als auch ein grundlegender Respekt voreinander notwendig. Der von mir benutzte Ehrbegriff heißt hier soviel wie, dass es für jeden ein Versprechen vor sich selbst ist, bestimmte Regeln der Achtsamkeit und des Umgangs miteinander einzuhalten. Diese Selbststeuerung fordere ich von jedem, der mein Freund sein möchte und biete sie auch – ganz unabhängig von Beziehungen und BDSM. Meine größere Sorge ist so gesehen weniger das erfragte Paradoxon, sondern vielmehr die Frage, als wie tragfähig sich diese grundlegende Freundschaft und Achtsamkeit erweist. Denn diese ist für mich der entscheidende Knackpunkt, evtl. Klippen zu umschiffen oder zu überstehen.

Da mein Konstrukt „absolute dominante Macht“ ohnehin nur beziehungsintern kennt, als beziehungsbildend und -erhaltend jedoch die gemeinsam geübte Achtsamkeit (eine Freundin von mir nannte dies, in Anspielung auf Orwell, mal „Doppel-Denk“) voraussetzt, ergibt sich für mich kein Paradoxon. Sollte mit der Frage allerdings auf Aspekte abgezielt werden, die ich im Bereich „reines Spiel“ oder „Wunschzetteldevotion“ verorten würde, so sind diese ohnehin nichts für mich. Eine solche Beziehung käme für mich entweder von vornherein gar nicht in Frage oder es wäre – sollte sich dies erst im Nachhinein herausstellen – für mich ein Grund, sie von mir aus zu beenden. Gar nicht mal so sehr der „devoten Anspruchshaltung“ wegen, je nach Ausprägung ließe sich diese vermutlich gut mit „Doppel-Denk“ verbinden. Wohl aber, da mir so der utopisch-visionäre, der geistig-führende Anteil abhanden käme und somit einer jener beiden mich zutiefst befriedigenden Punkte.

Sollte dies alles die Frage nach dem Paradoxon allerdings immer noch nicht beantworten (schließlich ist „Doppel-Denk“ ja vielleicht vom Grundsatz her paradox), so noch ein abschließender Satz: mit einem guten Freund bin ich mal zu der Einsicht gelangt, dass, wo immer wir ein Paradoxon finden, wir genau an jener Stelle weitergehen wollen, da ein Paradoxon zumeist eine tiefere Weisheit beinhaltet. Und das sehe ich heute noch ganz genauso!

Clu: Lieber Jördsón, ich danke dir für das interessante Interview!

4 Kommentare

  1. Alle Achtung!
    Ich steige zur Zeit langsam in die Thematik ein und bin per Zufall auf diese Seite gestoßen. Ich möchte Dir vor allem für die detaillierte beschreibung, deiner Empfindungen danken.
    Nachdem ich nun (vermute ich) gut drei Std. jeder Zeile gefolgt bin, habe ich das Gefühl einen guten Roman gelesen zu haben, der fast für mich geschrieben wurde.

    Kurzum, Das was ich heute gelesen habe, hat mich nicht nur zum denken angeregt, sondern mir gezeigt wie wenig ich diese Seite bisher akzeptiert habe.

    LG
    J.D.

  2. Freut mich sehr, dass du mit dem Schattenwelten-Blog was anfangen kannst! Akzeptieren oder nicht akzeptieren ist eine von außen aufgedrückte Überlegung. Anzuschauen und beobachten, was ist, bringt Erkennen – und auf Dauer auch Entwicklung!

  3. Sehr interessanter Beitrag. Besonders die Gedanken über die Gesellschaftsveränderung. Wäre es möglich BDSM mit anderen
    in einer klosterähnlichen Gemeinschaft zu leben und die Energien
    aus den devoten und dominanten Potentialen nicht nur zur Erfüllung
    der eigenen Sehnsüchte sondern auch zum Vorteil für die Gesellschaft
    zu nutzen?

  4. @Ramtha: hierarchisch strukturierte Klöster hat es immer schon gegeben, sie sind nichts Utopisches. Aus meiner Sicht auch dann nicht, wenn die Teilnehmer miteinander SM leben. In der heutigen Zeit haben sie, sofern sie nicht eine große Kirche als Geldgeber im Rücken haben, das Problem, sich finanzieren zu müssen – und sind damit als Gemeinschaft wie auch als Einzelne „Rädchen im Getriebe“.

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